Türkische Polizei zerschlägt mörderisches Netzwerk
Von Boris Kalnoky 24. Januar 2008, 04:00 Uhr
Razzia gegen 33 Ex-Offiziere und Anwälte - Verwicklungen in Pamuk-Prozess und Hrant-Dink-Mord
Istanbul - 1999 gab sich eine Geheimorganisation namens "Ergenekon" (der Name der mythischen Urheimat der Türken) eine neue Satzung für das 21. Jahrhundert. Von der Verteidigung der Prinzipien des Kemalismus gegen feindliche ausländische Mächte, die die Türkei angeblich teilen wollten, gegen (kurdische) Separatisten und gegen türkische Intellektuelle, die den Feinden helfen, war da die Rede. Kämpfen musste man dem Dokument zufolge gegen "Nachrichtendienste sowie legale und illegale Organisationen". Zu den akzeptablen Mitteln dieses Kampfes gehörten politische Morde, Drogenhandel, Zusammenarbeit mit dem organisierten Verbrechen. So zumindest zitiert die regierungsfreundliche Zeitung "Sabah" das Dokument, das der Redaktion nach eigenen Angaben vorliegt.
Die Verschwörer beließen es nicht bei Worten, sondern griffen den Ermittlern zufolge zu Gewalt. Der Organisation wird gegenwärtig unter anderem vorgeworfen: der Priestermord an Andrea Santoro, ein Anschlag gegen die kemalistische Zeitung "Cumhuriyet", der Mord an Verwaltungsrichter Mustafa Yücel Özbilgin, illegaler Waffenbesitz (aus Militärbeständen), Bildung einer terroristischen Vereinigung und Verschwörung zur Ermordung zahlreicher prominenter Intellektueller und Politiker. Zu den Menschen, die zum Wohl der Nation sterben sollten, gehörten unter anderem Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, die prominenten Kurden-Politiker Ahmet Türk, Leyla Zana und Osman Baydemir sowie der Journalist Fehmi Koru.
Zwei Jahre lang ermittelte die Polizei. Nun schlug sie los: Bei einer Razzia in sechs Städten wurden 33 mutmaßliche "Ergenekon"-Mitglieder festgenommen. 32 sind noch in Haft. Es sind keine kleinen Fische - Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gratulierte der Polizei persönlich zum Erfolg.
Der berüchtigste Mann unter den Festgenommenen ist einer, von dem in der Türkei wohl niemand gedacht hätte, dass er jemals verhaftet werden würde. Veli Kücük, ehemaliger Brigadegeneral, Gründer einer Sicherheitsfirma mit einem Istanbuler Ex-Gouverneur und einem früheren Anti-Drogen-Chef der Istanbuler Polizei sowie angeblicher Gründer des berüchtigten Geheimdienstes der Gendarmerie (Jitem). Kücük galt bislang als Inkarnation all dessen, was man in der Türkei unter "tiefem Staat" versteht.
Kücüks Name wurde in fast allen politischen Mordfällen der letzten Jahre genannt. Hrant Dink, der am 19. Januar vor einem Jahr ermordete armenische Publizist, kannte Kücük sehr genau. Als dieser in einem von Dinks Prozessen auftauchte (Dink war unter Artikel 301 angeklagt, die "Ehre" der Türkei oder des Militärs besudelt zu haben), wusste Dink, dass er in Lebensgefahr war. Kücük soll Dink auch persönlich angerufen haben, um ihm zu drohen. Bald darauf wurde Dink auf offener Straße erschossen. Der Rechtsanwalt eines der Hauptverdächtigen unter Dinks mutmaßlichen Mördern ist unter den 33 Verhafteten von "Ergenokon". Gegen Kücük gab es so viele Vorwürfe, dass die Untersuchungskommission des Generalstabs sich mit ihm befasste. Sie fand nichts. Kücük selbst wurde 2004 von der Zeitung "Sabah" mit den Worten zitiert: "Ich bereue nichts. Ich habe immer nur die Befehle meines Staates ausgeführt."
Zu den prominenten Verhafteten gehört auch der pausenlos vor Gericht ziehende Rechtsanwalt Kemal Kerincsiz. Er war es, der Pamuk, Dink und die Schriftstellerin Elif Safak wegen Verunglimpfung des Türkentums und des Militärs vor Gericht brachte. Pamuks Verfahren wurde angesichts der internationalen Proteste ohne Freispruch auf Eis gelegt.
Unter den verhafteten Verschwörern befinden sich Ex-Militärs, Rechtsanwälte, Schriftsteller, Angehörige des Istanbuler Gerichtshofes. Ihr "Kemalismus" hat natürlich nichts mit dem Staatsgründer gemein, sondern ist eine Pervertierung dessen politischen Erbes. Eine Frage wird sicher bald sein, ob es eine übergeordnete Ebene gab oder ob sie auf eigene Rechnung handelten. Wie "tief" ist der "tiefe Staat", von wo kommen die Befehle? 2006 schrieb der Journalist Mehmet Altan, 1996 habe der spätere Ministerpräsident Mesut Yilmaz einen Brief an den damaligen Staatspräsidenten geschrieben, wonach seinen Informationen zufolge "100 bis 120 Mörder im Auftrag des Staates töten" und nebenbei Drogenhandel und Glücksspiel organisieren. Mit "Staat" ist in der Türkei nie die Regierung gemeint, sondern die politische Kontrollebene der Militärs.
Dass überhaupt gegen "Ergenekon" eingeschritten wird, ist wahrscheinlich ein Ausdruck der neuen politischen Machtverhältnisse, der gewachsenen Macht der islamisch geprägten AKP. Sie hat unter dem Militär lange gelitten, Erdogan selbst saß im Gefängnis, und noch letzten Sommer versuchten die Militärs die Wahl des damaligen AKP-Außenministers Abdullah Gül zum Staatspräsidenten zu verhindern. Dass gegen den tiefen Sumpf des extremen türkischen Nationalismus vorgegangen wird, zeugt von der Tiefe des gesellschaftlichen und politischen Wandels in den letzten Jahren.