Landgericht Frankfurt bestätigt Freispruch für den Abschiebearzt Heinrich W.: Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht nicht hundertprozentige Ursache des Suizids PRO ASYL: Die Frage nach der politischen Verantwortung stellt sich dennoch Das Landgericht Frankfurt am Main hat heute die Berufung gegen den Freispruch im Fall des Facharztes für Psychiatrie Heinrich W. abgewiesen. W. hatte seine ärztlichen Sorgfaltspflichten – so nun auch das Landgericht – massiv verletzt, indem er den kurdischen Abschiebehäftling Mustafa Alcali nach einem einzigen Gespräch als nicht suizidgefährdet eingestuft hatte und es dabei nicht für nötig hielt, sich mit den Diagnosen der Ärzte, die Alcali zuvor mehrere Wochen behandelt hatten, ernsthaft auseinanderzusetzen. Alcali hatte sich später in der Zelle erhängt. Der Vorwurf der fahrlässigen Tötung sei Heinrich W. dennoch nicht zu machen, so das Landgericht. Voraussetzung hierfür wäre die hundertprozentige Ursächlichkeit des ärztlichen Fehlverhaltens für den späteren Suizid des Abschiebehäftlings. Einen von Heinrich W. in Gang gesetzten Automatismus, der zur Selbsttötung Alcalis hätte führen müssen, habe es nicht gegeben. Wie in der Vorinstanz wurden in der Verhandlung eine Vielzahl von Kommunikations- und Organisationsmängeln der medizinischen Versorgung im hessischen Justizvollzug deutlich. Die trugen zum verhängnisvollen Ablauf und damit zur Entlastung W.s bei. So entschied ein in der JVA Frankfurt am Main-Preungesheim eingesetzter Arzt nach einem 5-Minuten-Gespräch, die Psychopharmaka, mit denen der Abschiebungshäftling vorher wochenlang behandelt worden war, plötzlich abzusetzen – ohne weitere Informationen eine medizinisch problematische und für die Erhöhung des Suizidrisikos bedeutsame Fehlentscheidung. Eine Mitverantwortung für den tragischen Ablauf trägt aber auch die Justiz. Das Landgericht Hanau hatte sich nach der Rücküberstellung von Alcali aus der JVA Kassel in die JVA Frankfurt I mit der Frage der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung Alcalis auseinanderzusetzen. Alcalis Rechtsanwalt hatte die Einholung eines Obergutachtens beantragt. Das Landgericht Hanau lehnte dies explizit unter Verweis auf die Eindeutigkeit der ärztlichen Stellungnahme des Kasseler Arztes ab. Dies war ebenso ein Verstoß gegen die obergerichtliche Rechtsprechung, nach der es sich für Richter verbietet, die begrenzte eigene Sachkunde an die Stelle ärztlicher Fachkunde zu setzen wie ein weiterer Beitrag dazu, dass Alcalis Situation vollends ausweglos wurde. Dem Oberlandesgericht liegt noch eine – sozusagen posthume – Beschwerde gegen diese Entscheidung vor, über die auch trotz des Todes des Häftlings zu entscheiden sein wird. Das Landgericht Frankfurt hat ohne Zweifel rechtlich korrekt entschieden: Ohne hundertprozentige Kausalität keine fahrlässige Tötung. Was in den beiden mündlichen Verhandlungen vor dem Amtsgericht und vor dem Landgericht offenbar geworden ist, ist der Alptraum der psychiatrischen Mangelversorgung im hessischen Justizvollzug. Es stellt sich die Frage nach der politischen Verantwortung. Wichtige Diagnosen wurden offenbar nur nach dem Zufallsprinzip oder unvollständig weitergegeben, Verdachtsdiagnosen ohne Rücksprache zur Gewissheit erhoben. Der zum Tatzeitpunkt 79 Jahre alte Heinrich W. musste im Rahmen einer 12-Stunden-Stelle als Konsiliararzt de facto den gesamten psychiatrischen Sachverstand der JVA Kassel und ihrer Außenstellen vertreten. Er stellte dies in der heutigen Verhandlung vor dem Landgericht zwar als Überforderung dar, handelte jedoch selbstherrlich und fehlerhaft. Die vorbehandelnden Ärzte hielt er für eine Art „Gefälligkeitsgutachter“, sein eigenes Bild der Realität für die unumstößliche Wahrheit. Heinrich W. wie die Richter der 3. Kammer des Landgerichts Hanau sind Symptome der politischen Krankheit Abschiebungswahn. Dass es immer wieder Ärzte gibt, die ohne ernsthafte Untersuchung von Menschen in Minutenschnelle Reise- und Abschiebungsfähigkeit diagnostizieren, dass es Richter gibt, die solchen Diagnosen begierig folgen und sich ärztliche Kompetenzen anmaßen, ist einem politischen Klima geschuldet, in dem tote Abschiebungshäftlinge und Tote bei Abschiebungen bloße Nebenwirkungen des politisch Gewollten sind. Kontakt: Tel. 069 23 06 95 E-Mail presse@proasyl.de
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