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Das Geschäft mit der Illegalität |
Berliner Zeitung, 7. November 2009 BECKS WELT
Das Geschäft mit der Illegalität Weltinnenpolitik: Die Rechtlosigkeit armer Einwanderer ist für die reichen Gesellschaften lukrativ. Von der Relativität des Begriffs Verbrechen Ulrich Beck Die 2 000 Sans-papiers (Migranten ohne Papiere), die sich im Zentrum von Paris in einem leerstehenden Warenhaus in der Rue Baudelique 14 eingerichtet haben, verbergen sich nicht. Im Gegenteil: Sie tun alles, um ihrem rechtlosen Status Aufmerksamkeit zu verschaffen. Jeden Mittwoch begibt sich der "Protestzug der Sans-papiers" auf die Straßen, um auf diese Weise für ihr Ringen um einen legalen Status Unterstützung zu mobilisieren. Es ist ein (Ohn-)Machtspiel der Rechtlosen - in Frankreich heißen und sind sie nicht Gesetzesbrecher, sondern nur "ohne Papiere": "Sans-papiers", ähnlich, etwas trockener in England "undocumented workers", in Italien "Clandestini" (blinde Passagiere) und in Deutschland bezeichnenderweise schroff "illegale Migranten", die Abschiebepraxis verbal vorwegnehmend. Sie versuchen ihre Aussichtslosigkeit gegen die Widersprüche zu wenden, in die sich die Übermacht der westlichen Staaten verwickelt hat. Die reichen Demokratien tragen die Fahne der Gleichheit und der Menschenrechte in die letzten Winkel der Erde, ohne zu bemerken, dass auf diese Weise die nationalen Grenzbefestigungen, mit denen sie die Migrantenströme abwehren wollen, ihre Legitimationsgrundlage verlieren. Die Migranten in Paris spielen das Menschenrecht auf Mobilität mutig aus gegen ihre funktionale Ausbeutung in den reichen Ländern und Staaten, die die verkündete Norm der Gleichheit an ihren bewaffneten Grenzen enden lassen wollen. Was in vielen Ländern weltweit undenkbar wäre, ist in Frankreich keineswegs ungewöhnlich. Hier gibt es durchaus gelegentlich (sogar erfolgreiche) Streiks der undocumented workers mit dem Ziel, ihre Arbeitgeber dazu zu bewegen, ihnen Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen zu verschaffen. Das Illegalenlager in der Rue Baudelique kennt, was das Ausmaß, aber auch die Sichtbarkeit betrifft, keine Parallelen. Dennoch hat die Regierung des tatendurstigen Migrationsskeptikers Sarkozy nichts unternommen, um es zu räumen. Warum? Die Sans-papiers stürzen die französische Regierung in Verlegenheit. Auf der einen Seite ertönt der Ruf vieler Franzosen nach mehr Restriktionen, um die illegalen Migrationsströme zu drosseln. Auf der anderen Seite träfe der geballte Polizeieinsatz der Regierung gegen Sans-papiers auf historisch begründeten öffentlichen Widerstand. Die Franzosen sehen ihre Nation immer noch stolz als den Geburtsort der Menschenrechte; mehr als in anderen Ländern bleibt Frankreich eine Bastion des sozialen Aktivismus und des Widerstandes gegen staatliche Willkür. Nicht unwichtig ist auch, dass in Frankreich - anders als in Deutschland und Italien - die großen Gewerkschaften des Landes sich das Anliegen der Sans-papiers zu eigen gemacht haben. Daher ist es kein Wunder, dass der Organisator der Sans-papiers-Bewegung, der aus dem Senegal nach Frankreich illegal 1999 emigrierte und 2003 die Menschen zu Menschen machenden "Papiere" erhielt, regelmäßig zu Gast in der Radiosendung "Die Stimme der Sans-papiers" ist. Auf die Frage, warum die Migranten, die sich im Warenhaus eingenistet haben, nicht von der Polizei abgeführt werden, bricht ein Kichern aus ihm heraus. "Das ist in der Tat ein bisschen überraschend", gibt er zu. Aber paradoxerweise ist es gerade die Sichtbarkeit, die sie schützt. "Massenverhaftung? Das würden die Franzosen nicht hinnehmen. Die Regierung weiß das." Was verbirgt sich eigentlich hinter dem Etikett "illegale Migranten"? Menschen, die in reicheren Regionen Arbeiten übernehmen, für die sich sonst in diesen Ländern niemand findet - Putzen, Zuarbeiten in Hotels, Restaurants und Küchen, Altenpflegedienste und Kinderbetreuung in Privathaushalten. Die Sans-papiers der Welt müssen verdeckt arbeiten, also verdienen sie schlecht, sechs bis acht Euro in der Stunde, sagen die Bewohner in der Rue Baudelique; andere arbeiten unter dem Namen ihrer legalen Freunde. Und die Mehrzahl sagt, sie bezahlen sogar Steuern - auch Sozialabgaben würden ihnen automatisch abgezogen, ohne dass sie diese jemals in Anspruch nehmen können. Die "Illegalität" macht diese mobilen Weltbürger erpressbar und ausbeutbar. Sie haben keinerlei Rechte. Aber ihre Tätigkeiten sind notwendig - für das eigene Überleben und für das ihrer Herkunftsfamilien, aber auch für das Überleben der Wohlstandsgesellschaften. Man kann und muss sich über diese Verzweiflungslage von Menschen - die nichts wollen als gute Arbeit leisten, um ihre Familien zu ernähren, und zumeist überangepasst in den Ländern Europas leben müssen, weil sie oft über Jahrzehnte hinweg jede Auffälligkeit vermeiden müssen - moralisch empören. Aber das ist nicht die Pointe. Die Pointe ist vielmehr, dass die auftrumpfende Humanität des Westens die Inhumanität im Umgang mit den "Illegalen" voraussetzt! Ohne ihre tätige Präsenz, ohne ihre schlechte Bezahlung, ohne ihre aufopfernde Hilfeleistung in der Altenpflege und Kinderversorgung in den um Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen ringenden Privathaushalten brächen diese Gesellschaften zusammen. Illegale sind "systemnotwendig", wie die Großbanken oder die Gerichte, die sie verurteilen. Darüber täuschen wir uns mit der Kategorie der "Illegalen" hinweg: Diese Kriminalisierung verdeckt ihre Unverzichtbarkeit und mobilisiert die moralische Empörung und rechtliche Vorverurteilung, die den Preis der Arbeitskraft senkt und ihre Ausbeutung erleichtert. Das gute Gewissen dafür gibt es gleichsam gratis, es wird frei Haus mit der Kriminalisierung mitgeliefert! Die Regierung Berlusconi hat in Italien dem noch eine Krone aufgesetzt: Hier wird demjenigen mit Strafe gedroht, der von illegalen Migranten weiß und diese nicht anzeigt. Hannah Arendt sprach von den "Staatenlosen", die den Status der "Vogelfreien" im Mittelalter in der modernen Welt einnehmen. Was sie noch nicht sehen konnte, ist dieses: wie der moderne Kapitalismus und die globale Hierarchie der Arbeitsteilung zwischen armen und reichen Ländern und Bevölkerungen, die er schafft und nutzt, selbst in den Zentren westlicher Rechtsstaaten einen "Arbeitsmarkt der Vogelfreiheit" erneuert und Staatsgrenzen übergreifend widerspruchsvoll institutionalisiert hat. Das ist eine Art von Weltinnenpolitik, die sich ebenso im Makrokosmos wie im Mikrokosmos, in den Zentren des privaten Glücks und der versprochenen Gleichheit - den Familien - abspielt. Der Emanzipationskompromiss in den Doppelverdienerehen beruht unausgesprochen auf dieser "organisierten Illegalität": den stillen, illegalen Zuarbeitern aus den Armenregionen der Welt. "Peace keeping forces" im Geschlechterkampf könnte man sie auch nennen. Rund 1 200 Euro monatlich verdienen ungarische oder polnische Altenpflegerinnen in deutschen Familien. Bei einem deutschen Dienst müsste man mit mindestens 8 000 Euro rechnen. Das Dilemma der Angehörigen ist offensichtlich: Entweder sie stellen eine illegale Altenpflegerin ein, oder sie machen sich schuldig wegen unterlassener Hilfeleistung gegenüber Vater oder Mutter. P.S.: Wer versorgt eigentlich die Kinder, Alten und Kranken in den ärmeren Herkunftsländern der Mütter, die bei uns als Vogelfreie dienend, den Waffenstillstand ("Frieden" wäre da wohl doch zu viel gesagt) im Geschlechterkampf ermöglichen? Es gibt kein Außen In einer Welt, in der Risiken aller Art allgegenwärtig sind, die öffentliche wie die private Sphäre durchdringen und die Menschen peinigen und faszinieren, gibt es viele Gründe, Zuflucht in einem "Außerhalb" zu suchen, in einer Welt jenseits von Risiken. Allerdings ist eine wesentliche Folge gerade der Globalität der Risiken (wie es der Klimawandel und die Finanzkrise allgemein erfahrbar gemacht haben) das Entstehen einer gemeinsamen Welt, die kein "Außen" mehr kennt. Wir müssen, um zu überleben, mit diesen "Anderen" in dieser Welt der Korruption, des Leidens und der Ausbeutung zusammenleben. Begrabe alle Werte "politischer Reinheit", die dir vorgaukeln, dass du nicht dazugehörst, dass du außerhalb stehst! - lautet die eine Schlussfolgerung. Eine andere lautet, dass sich mit dem Bewusstwerden globaler Risiken auch Räume für alternative Zukunftsentwürfe öffnen, ja, für alternative Modernen! Globale Risiken können als ein lebenswichtiger Schritt zum Aufbau neuer Institutionen gelten und zum politischen Handeln weltweit aufrufen. Wir sehen uns aufgefordert, einen "kosmopolitischen Blick" zu entwickeln, die Pluralität der Welt anzuerkennen. Sind dann aber Risiken überhaupt Risiken? Nein, denn ihr Sein oder Nicht-Sein beruht wesentlich auf kulturellen Wertungen und Wahrnehmungen, die je nach historischen Erfahrungen sogar gegensätzlich ausfallen können. Das kann eindringlich an den dramatischen Folgen der Biomedizin nachvollzogen werden. Israel geht hier weiter als jedes andere Land. Die hohe Zahl der Geburten soll das Überleben einer Nation garantieren. So erlaubt Israel die Leihmutterschaft, sofern ein gesetzlich vorgeschriebenes Komitee der Vereinbarung zugestimmt hat. Seine Samenbanken stehen Singlefrauen wie Lesben offen. Stirbt ein Mann, etwa bei einem Unfall, so darf ihm nach dem Tode Sperma entnommen werden, damit seine Frau sich befruchten lassen kann. Die Präimplantationsdiagnostik (PID), bei der Embryonen vor der Einpflanzung im Reagenzglas auf Genschäden untersucht und aussortiert werden, ist hier eine Routineprozedur. Auch hält Israel den Weltrekord an Gentests vor oder während der Schwangerschaft - 14 sind bei nichtorthodoxen Frauen üblich. Selbst kleinere Abweichungen von der Norm führen häufig zur Abtreibung, mitunter genügt eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, die im Ultraschall auffällt. Fast alles, was in Israel erlaubt ist, ist in Deutschland umstritten oder verboten. Die Pointe ist: Beide berufen sich auf den Holocaust! Allerdings haben Juden ihn als Opfer erlitten, während Deutsche die Täter waren. Die moralischen Grenzziehungen der deutschen Bioethik sind geprägt von den Nürnberger Prozessen, als nationalsozialistische Ärzte sich für ihre Verbrechen verantworten mussten. In Deutschland ist der Begriff "Eugenik" entsprechend hoch belastet. In Israel ist er es nicht. Zionismus und Eugenik schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich. Die Zionisten propagierten den gesunden und starken "muscle-jew", als Gegenbild zum unterdrückten Diaspora-Juden. In der liberalen Praxis der Biomedizin lebt dieser Wunsch nach einem "besseren Menschen" weiter. Verallgemeinert gesagt: In den neuen Verwicklungen und Verwirrungen der Weltinnenpolitik lässt sich nicht länger leugnen, dass in den Augen der Menschen in verschiedenen Pfaden und Erfahrungshintergründen der Modernisierung Risiken nicht gleich Risiken, sondern möglicherweise für die einen Chancen, für die anderen Verbrechen "sind"! Der Soziologe Ulrich Beck, geboren 1944, ist einer der bekanntesten Theoretiker der Globalisierung. Von ihm stammt der Begriff der Weltrisikogesellschaft. Zuletzt erschien von ihm: "Der eigene Gott. Die Individualisierung der Religion und der ,Geist' der Weltgesellschaft", Frankfurt/M. 2008. In der Berliner Zeitung erscheint regelmäßig Becks Welt: Beck schreibt bis August 2010 an einem der ersten Sonnabende im Monat, was ihm im Vormonat auffiel in den Medien und in der Wirklichkeit, an Zahlen und Ideen - global und lokal.
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