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Eine Klasse, alle Klassen

Eine Gesamtschule in einem Problembezirk in Frankfurt am Main erlebt plötzlich Zulauf aus bürgerlichen Kreisen. Der Grund: Engagierte Eltern haben ihre Kinder gemeinsam eingeschult und so zu einer Mischung von Schülern aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten in der Klasse beigetragen

Drei Kinder im Klassenzimmer zeigen mit den Fingern auf, andere  schauen nach vorne oder beugen sich über ihre Hefte

Alle machen mit: Die Carlo-Mierendorff-Schule möchte eine Schule für alle Kinder ihres Viertels sein

Text Eva Keller
Foto Theo Barth

Es gibt Leute, die lieber einen Umweg laufen, als die Karl-Kirchner-Siedlung zu durchqueren. Block reiht sich hier an Block, gebaut in den 1960er Jahren, die Balkone zieren seltener Blumen als vielmehr Parabol-Antennen. Zwischen den Häusern sind Rasenflächen, auf denen kaum Kinder spielen, obwohl es in diesem Viertel doch mehr von ihnen gibt als in anderen Teilen Frankfurts. 2 900 Menschen leben hier. Die meisten Kinder sprechen Deutsch mit Akzent, manche Eltern nicht mal das. Arbeitslosigkeit ist ein großes Thema.
Am Rande dieser Siedlung liegt die Carlo-Mierendorff-Schule (CMS), eine Integrierte Gesamtschule (IGS), in der unterschiedlich leistungsfähige Kinder gemeinsam lernen. Eine Schule, die Heike Borufka und Jost Thelen auf keinen Fall für ihre Tochter Nia im Auge hatten. „Wir kannten ja den Ruf – ein miserabler nämlich“, erklärt Borufka. Doch vom Infotag der IGSen in Frankfurt kamen sie und ihr Mann verwirrt nach Hause: Die Carlo-Mierendorff-Schule schien ihnen plötzlich erste Wahl. Eine Lehrerin hatte sie mit Ehrlichkeit überzeugt: Die bestritt gar nicht, dass es an der Schule Probleme gibt. Aber sie betonte zugleich, was die Schule zu bieten hat: Klassen, in denen Förderschüler mitlernen und zwei Lehrer für die Kinder da sind, selbstständiges Lernen in Lerninseln, Theater und Musik als AGs, Schulsozialarbeit, Mittagsbetreuung. Mit anderen Worten: „Eine Schule, die sich um ihre Schüler kümmert – und auf so etwas lege ich Wert“, sagt Borufka.

Ein Mädchen im Klassenzimmer schaut nach vorne sagt etwas, die  anderen Kinder blicken sie an

In dieser Klasse wird gemeinsamer Unterricht praktiziert. Hier lernen Kinder mit und ohne Förderbedarf zusammen. Auch ein hochbegabter Junge gehört dazu. Wer Hilfe braucht, bekommt sie – dafür sorgen zwei Lehrer

Tochter Nia besuchte probehalber den Unterricht, und als sie begeistert nach Hause kam, beschlossen die Eltern, weitere Familien für die Schule zu gewinnen, „damit wir die richtige Mischung in der Klasse hinbekommen“. Dabei half, dass Borufka einen Hund hat und geschwätzig ist, wie sie selbstironisch sagt: Auf Spaziergängen, bei der Arbeit, beim Einkaufen und am Tag der Offenen Tür sprach sie Leute an, argumentierte und ermutigte: „Traut Euch!“ Sie konnte überzeugen. Und so wird im Herbst ein Dutzend Grundschüler auf die CMS wechseln. Kinder aus der Mittelschicht, manche mit Akademiker-Eltern. Die sind an der Carlo keinesfalls selbstverständlich: Bislang kamen sie fast nur, wenn die Plätze an anderen Gesamtschulen vergeben waren.

Wie Oskar* (* Name von der Redaktion geändert). Seine Eltern bekamen einen Schreck, als die Zuteilung in der Post lag und ihr Sohn fortan einen langen Schulweg in den „sozialen Brennpunkt“ antreten musste. Samuel* aus einem wohlhabenden Viertel, der die ersten Wochen merkwürdig aggressiv auftrat – bis er merkte, dass sich die Mitschüler, vor denen er gewarnt worden war und gegen die er sich gerade in Position brachte, ganz friedlich verhielten. Oder Leo*, der anfangs seine Eltern irritiert fragte, ob er auf einer Sonderschule sei – weil seine Mitschüler Konflikte lieber mit Händen statt mit Worten lösten und gegenüber Lehrern unhöflich waren. Mittlerweile hat er sich eingelebt und fühlt sich wohl.

Ein Junge mit Gipsarm sitz an einem Pult im Klassenzimmer und  schreibt etwas

Ben Dombrofski geht an die Carlo, weil dort nicht nur gelernt, sondern auch gelebt wird

In der Klasse 5 CF stehen die Kinder auf und rufen im Chor: „Guten Morgen, Herr Menje, guten Morgen, Frau Fiege!“ Der Mathe-Unterricht beginnt: geometrische Körper und ihre Eigenschaften. Der Klassenlehrer stellt Fragen, die Kinder tragen ihr Wissen zusammen, eine Schülerin, die „richtig gut mitmacht in letzter Zeit“, bekommt Lob, eine andere wird korrigiert: „Die Wand, nicht das Wand“. Frau Fiege, die Förderlehrerin, verteilt Arbeitsblätter fürs selbstständige Arbeiten, dann geht sie von Tisch zu Tisch. Vier Förderschüler und ein hochbegabter Junge gehören zu dieser Klasse mit insgesamt 22 Kindern. Peter, der nicht mehr stillsitzen kann, darf kurz vor die Tür gehen. Frau Fiege setzt sich zu Cem, der um Hilfe bittet, einen Tisch weiter löst Marco schon die Zusatzaufgaben. Es ist kein halbes Jahr her, da krachte es gewaltig zwischen Cem und Marco (beide 11). Cem machte blöde Sprüche, rempelte und schubste Marco, bis sich die Eltern einschalteten. Im Klassenrat besprachen die Kinder, wie wieder Frieden in die Klasse kommt, und „heute weiß keiner mehr so genau, warum es überhaupt Streit gab“, sagt Klassensprecher Ben. „Die schlechten Dinge merke ich mir nicht“, erklärt Marco, und Cem sagt: „Ich habe mich verändert seit der Klassenkonferenz“ – also seit die Lehrer ein ernstes Wort mit ihm geredet haben. Sie stempelten Cem nicht als Störenfried ab, sondern schenkten ihm jene Aufmerksamkeit, die ihm zuhause fehlte. Heute hat der Junge in Sozialverhalten eine 2 – früher war es eine 6.

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