"Mehr Pragmatismus"
Herr Anderson, seit Jahren fordern Verbände, Kirchen und Regierungskommissionen einhellig, die humanitäre Lage von Menschen ohne Papiere zu verbessern. Das Bundesinnenministerium aber sieht keinen Handlungsbedarf. Wie kommt das?
Dahinter steckt ein Mentalitätsproblem der deutschen Politik: Menschen ohne Papiere als Träger von Menschenrechten zu betrachten, ist hier offenbar nicht möglich. Sie werden vielmehr als ordnungspolitisches Risiko behandelt - anders als in anderen Staaten, die pragmatisch zur Kenntnis nehmen, dass illegaler Aufenthalt etwas ist, das es immer geben wird. Zum anderen: die Nöte "Illegaler" - also Krankheiten, Schulbesuch der Kinder, Lohndumping - kommen bei der Politik als Problem gar nicht an, weil unzählige Organisationen sie auffangen.
Was könnte gesetzgeberisch geschehen?
Zur Person Philip Anderson lehrt an der FH Regensburg interkulturelle soziale Arbeit und hat viele Studien zur Lebenssituation von Migranten hierzulande erstellt.
Die Stadt München ließ ihn 2003 die Lage "Illegaler" an der Isar untersu- chen. Sie übernahm damit eine Vor- reiterrolle beim Versuch, das Thema Illegalität aus der Tabuzone zu holen. In erster Linie muss die Meldepflicht von Kliniken, Sozialämtern und Schulen gegenüber den Ausländerbehörden eingeschränkt werden auf sicherheitsrelevante Aspekte. So handhaben es auch viele andere Staaten, und die haben nicht mehr Probleme mit illegaler Zuwanderung als wir.
Was ist bei illegal Beschäftigten möglich? Viele werden ja um ihren Lohn geprellt.
Das ist ein sehr heißes Eisen, das das Innenministerium in seinem Bericht "Illegal aufhältige Migranten in Deutschland" leider ausspart. Dabei spielt der Arbeitsmarkt für "Illegale" volkswirtschaftlich eine Riesenrolle. Aber einen Schutz vor Lohnprellung gibt es für diese Leute faktisch nicht: Sie trauen sich nicht zu klagen. Das könnte man ändern, wenn man ihnen bei einer Klage vor dem Arbeitsgericht Abschiebeschutz gewähren würde. Auch müsste klargestellt werden, dass die Meldepflicht im Ausländerrecht für Arbeitsrichter nicht gilt.
Zu den Kommunen: Sie haben 2003 für München eine Studie über illegal in der Stadt lebende Menschen gemacht. Was ist seither passiert?
Einiges, und mit Erfolg. Zum Beispiel hat die Stadt die "anonyme Fallberatung" installiert. Menschen ohne Papiere wenden sich an unabhängige Beratungsstellen, die nehmen dann stellvertretend für sie Kontakt mit der Ausländerbehörde auf, um über Wege aus der Illegalität zu verhandeln. Ungewollt Schwangere bekommen eine Duldung drei Monate vor und drei Monate nach der Geburt, so dass sie wenigstens in dieser Zeit medizinisch versorgt sind. Auch Schwerkranke können eine solche Duldung erhalten. All das können die Verbände und die Ausländerbehörde aushandeln.
Wie sieht's im Schulbereich aus?
Das ist Ländersache, da hat die Stadt wenig Spielraum. Das Land Bayern vertritt zwar die Auffassung, dass alle Kinder das Recht auf Schulbesuch haben, allerdings kollidiert das mit der Meldepflicht der Schulleitungen, die die Eltern abschreckt. München hat immerhin für städtische Schulen die Regel ausgegeben, dass Eltern keine Aufenthaltspapiere vorlegen müssen. Bei den weiterführenden Schulen geht das so nicht.
Andere Staaten wie Spanien und Belgien haben mit Legalisierungen wiederholt Tausende Menschen aus der Illegalität geholt. Was halten Sie davon?
Das wäre der Königsweg, auch für Deutschland. Damit würde man auch gesellschaftspolitisch ein wichtiges Signal geben: Wir akzeptieren, dass die Menschen hier leben, dass sie hier eine Rolle haben und gebraucht werden. Die von Schwarz-Rot 2007 beschlossene Bleiberechtsregelung hat damit leider nichts zu tun. Sie hilft nur einem engen Personenkreis mit Duldung, Menschen in der Illegalität können davon nicht profitieren.
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