Die Welt, 17.3.2010 Heftige Reaktionen Türkei droht 100.000 Armeniern mit Deportation Von Boris Kálnoky 17. März 2010, 13:13 Uhr Der türkische Ministerpräsident ist kein Freund leiser Worte. Statt in einem BBC-Interview über die Anerkennung des Genozids an den Armeniern zu sprechen, droht Erdogan 100.000 von ihnen, sie aus der Türkei auszuweisen. Diese Ankündigung löste heftige Reaktionen aus, auch wegen der englischen Übersetzung.
In einem Interview mit dem türkischen Programm der BBC sagte der Regierungschef, die jüngsten Resolutionen würden vor allem Armenien selbst schaden Ein Interview des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan mit dem britischen Sender BBC hat für erhebliches Aufsehen gesorgt, international und daheim in der Türkei: Der Regierungschef drohte 100.000 nicht-türkische Armenier auszuweisen, die sich nach Angaben des türkischen Innenministeriums in der Türkei aufhalten. Im Interview ging es um die Anerkennung des Genozids an den Armeniern durch das Osmanische Reich 1915. Die Türkei und eine Reihe von namhaften Historikern streiten ab, dass die Ereignisse als „Genozid“ einzustufen sind, aber die meisten Historiker betrachten die Massaker an der armenischen Zivilbevölkerung als klaren Völkermord. Vor kurzem hatte das schwedische Parlament in einer Resolution den Genozid als Tatbestand anerkannt, und ein Ausschuss des US-Kongresses ebenso. Zu seiner Meinung befragt, wich Erdogan dem Inhalt des Themas aus und drohte stattdessen mit der Ausweisung aller Armenier aus der Türkei, die keine türkischen Staatsbürger sind. „Gegenwärtig leben 170.000 Armenier in unserem Land“, sagte er. „Nur 70.000 sind türkische Staatsbürger, aber wir tolerieren die übrigen 100.000. Wenn nötig, kann es passieren, dass ich diesen 100.000 sagen muss, das sie in ihr Land zurückgehen sollen, weil sie nicht meine Staatsbürger sind. Ich muss sie nicht in meinem Land behalten.“ Erdogan ist kein Freund leiser Worte, und wenn er sich zu einem heiklen internationalen Thema äußert, dann zuckt man in diplomatischen Kreisen vorahnungsvoll zusammen. Selten aber trat er in soviel Porzellan. Da ist zum einen die Wortwahl des englischen Interviews: Ausweisung heißt „Deportation“, und das stand dann in den Schlagzeilen. Es erinnert an den Genozid selbst: Die Armenier wurden 1915 deportiert, und starben dabei an Hunger und Krankheiten. Unglücklicher kann keine Wortwahl sein. Dann der Stil, in dem Erdogan mit dem majestätischen Besitzerstolz eines Sultans spricht: „Es sind nicht meine Staatsbürger“, also muss er sie nicht in „seinem“ Land behalten. In den Leserreaktionen und Internetforen der Türkei waren es „seine“ Bürger, die Erdogan auf den gröbsten Unsinn seiner Bemerkung hinwiesen: Sollte die Türkei diesen Fehler begehen, dann wäre das nur der Präzedenzfall, auf den ganz Europa warte, um die Türken in europäischen Ländern auszuweisen, hieß es in einer ganzen Anzahl der zuletzt 337 Leserkommentare auf der Webseite der Zeitung „Hürriyet“. Das Massaker an den Armeniern Man dürfe „Böses nicht mit Bösem vergelten“, sagte Leser „Conguluuzzz II“. Andere Kommentatoren forderten türkische Arbeitgeber auf, alle illegalen Armenier zu feuern – denn es ist eine Tatsache, dass die meisten Armenier in der Türkei, die keine türkischen Staatsbürger sind, illegal arbeiten. Im Jahr 2005 hatte der damalige Außenminister Abdullah Gül (der heutige Staatspräsident) die Zahl der Armenier, die „länger bleiben, als ihr Visum erlaubt“ auf 80.000 geschätzt. Eigentlich hatten die Zeichen in der Armenierfrage zuletzt auf Entspannung gestanden. Mit Armenien selbst hatte die Türkei zwei Protokolle unterzeichnet, die einen Weg zur Normalisierung der Beziehungen vorzeichneten, aber bislang geht es ein wenig wie mit der EU-Beitrittskandidatur: Zuerst eine feierliche Unterschrift, und dann nur noch Probleme. Ankara machte die Ratifizierung und Umsetzung der Protokolle nachträglich von einem armenischen Rückzug aus der Region Nagorno-Karabach abhängig. Die Region ist mehrheitlich von Armeniern bevölkert, gehört aber technisch zu Aserbaidschan. Nach einem Krieg der beiden Länder besetzten armenische Truppen die umstrittene Enklave. Neuerdings droht Aserbaidschan wieder mit Krieg. Und Armenien hat angedeutet, aus den Protokollen mit Ankara eventuell wieder aussteigen zu wollen. Anbei ein Bericht über einen Historiker aus USA von Karen Krüger , FAZ Karl May war ein Armenier Wie ein Experte aus Kentucky die Türken tröstet Da steht er nun, Dr. Justin McCarthy, Professor für Geschichtswissenschaft an der Universität von Louisville, Kentucky. Er wolle nicht über Menschen reden, die getötet worden seien, sagt der Historiker. Denn dann begehe man leicht den Fehler, die Vergangenheit emotional und nicht mit Verstand zu reflektieren. Kein Vortrag, aber eine Geschichtsstunde werde das Folgende sein. Das Thema: "Die leidvolle Geschichte der Türken und Armenier - der Konflikt von 1915". Die Schüler: gut zweihundert erwachsene Mitglieder der türkischen Gemeinde Rhein-Main, Typ gebildeter Mittelstand. Das auf der Einladung des Vereins formulierte Ziel: "Die Aufarbeitung der Geschichte". Sie beginnt an diesem Montagabend mit wissenschaftlichen Karten der heutigen Türkei; da stand das Osmanische Heer, da die Armenier, dort sehen Sie die wichtigsten Straßen der Region und die Eisenbahnlinie. Von "Osmanen" und "den Armeniern" spricht McCarthy - ganz so, als wären die Armenier ein Fremdkörper, nicht aber gleichberechtigte Untertanen des Osmanischen Reiches gewesen. Es stimme, Armenier seien getötet worden, doch warum? Weil sie keine Muslime sind? "Falsch", antwortet McCarthy sich selbst. "Muslime und Christen haben schließlich neunhundert Jahre friedlich im Osmanischen Reich zusammengelebt." Vom Balkan bis zum Nahen Osten konnte man freilich beobachten, daß auch die längste Friedensperiode enden kann. Fünfzehn Minuten schon dauert seine Geschichtsstunde. Die Begeisterung der türkischen Gemeinde wächst: Wofür sie sich sonst verteidigen müssen, erfährt hier und jetzt die ersehnte Bestätigung. Was McCarthy vorträgt, entspricht der offiziellen Geschichtsversion der Türkei und ist auch Teil der kollektiven Identität vieler im Ausland lebender Türken geworden. Aber nun sagt es einer, der in Amerika als Experte für osmanische Geschichte gilt. Der Wissenschaftler als Verführer: Ein guter Muslim würde niemals einen Genozid begehen, da er wisse, daß er dann in der Hölle endete, sagt McCarthy. Mit fast gleichem Wortlaut verteidigte Ministerpräsident Erdogan im vergangenen Jahr Sudans Präsidenten Al Baschir, als der UN-Gerichtshof Haftbefehl gegen ihn wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erließ. Die Armenier, so der Professor aus Kentucky weiter, seien eine "furchtbare Gefahr" für das Osmanische Reich gewesen. "Sie", "die Armenier" hätten als Teil der russischen Kriegsmaschinerie agiert, geheime Waffenarsenale angelegt, so gut versteckt, "daß sie nicht gefunden werden konnten". McCarthys Bedrohungsbeweis: zwei Zitate armenischer Nationalisten. Nach fünfundvierzig Minuten Vortrag erklärt McCarthy, wen er mit "die Armenier" meint: Natürlich nur die bewaffneten Rebellen! Aber wie viele der Toten rechnet er dazu? Und was ist mit den anderen? Spricht er über deren türkische Opfer, so verwendet er das Bild von "Schlachthäusern", in dem "die Armenier" wahllos "alle" muslimischen Männer, Frauen und Kinder töteten. Die Scheu vor Emotionen hat er angesichts dieser Toten nun abgelegt. Und es geht weiter: Die folgenden Deportationen armenischer Zivilisten seien eine logische Konsequenz gewesen, um Menschenleben zu retten; viele Armenier hätten ja überlebt. Wenn man tatsächlich alle Armenier hätte töten wollen, "dann hätten die Osmanen einen schlechten Job gemacht". Dafür gibt es donnernden Applaus. "Diese Leute" wollten, daß die Türken als Nazis dastehen. Menschen wie er sollten mundtot gemacht werden, sagt McCarthy, der doch nun schon eine ganze Weile laut und deutlich redet - und bedauert, daß ihm das Geld fehle, um seine Bücher ins Deutsche zu übersetzen. Auf welche Quellen stützen sich armenische Historiker, die anderes behaupten, will ein junger Türke wissen. McCarthy zuckt mit den Schultern: "Sie wollen nicht mit uns sprechen. Weil man dann merken könnte, daß sie unrecht haben. Es tut mir leid, das zu sagen, aber: Sie sind Feiglinge." Und was halte er von den Dokumentationen von Johannes Lepsius? Der habe nur aus Missionarsbriefen abgeschrieben, Istanbul aber nie verlassen, sagt der Historiker über den deutschen Theologen, der mit seinen Berichten die deutsche Öffentlichkeit auf die Massaker aufmerksam machen wollte. "Das hat Karl May ja auch gemacht", tönt ein Vertreter der türkischen Gemeinde aus dem Hintergrund. Was solle er seinen deutschen Freunden sagen, die in den Armeniern die Opfer sähen, fragt ein anderer. Er solle aufstehen und wütend werden, rät McCarthy. Man wolle eine Versachlichung der Debatte, sie sei zu emotional, hatte einer der Organisatoren der Veranstaltung eingangs erklärt. Und: Die türkische Gemeinde sei daran interessiert, daß die deutsche Öffentlichkeit, in der ein einseitiges Bild gezeichnet werde, sich objektiv informiere. Ein Mann steht auf und verspricht, Geld zu sammeln, damit McCarthys Werke auf Deutsch erscheinen können. Noch mal lauter Applaus. Heute Abend wird der Historiker, der 1998 den türkischen Verdienstorden erhielt, in Stuttgart sprechen. KAREN KRÜGER
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