Schulversagen kein Grund für Abschiebung Europäischer Gerichtshof fällt Urteil 9.10.2008 0:00 Uhr Türkischen Schulabbrechern mit der Ausweisung zu drohen, verstößt gegen europäisches Recht. Das hat jetzt der Europäische Gerichtshof in Luxemburg entschieden (Aktenzeichen C-453/07). Somit ist auch die neue Praxis der Berliner Ausländerbehörde rechtswidrig, türkischen Jugendlichen die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu verweigern, wenn sie die Schule schwänzen, keinen Abschluss erworben haben oder sich nicht um einen Ausbildungsplatz bemühen. Die Behörde hatte vor einigen Monaten entsprechende neue „Anwendungshinweise“ zum Aufenthaltsgesetz vorgelegt, über die sich Politiker und Menschenrechtsorganisationen empörten. Dem Urteil des EuGH liegt der Fall eines 23-jährigen Türken aus Hessen zugrunde. Der Sohn eines türkischen Gastarbeiters ist in Deutschland aufgewachsen, hat die Schule mit 16 Jahren ohne Abschluss verlassen und ist seitdem ohne Arbeit. Hessen weigerte sich, seine Aufenthaltserlaubnis zu verlängern. Die Luxemburger Richter verweisen auf das Assoziationsabkommen mit der Türkei, das festlegt, dass Kindern türkischer Gastarbeiter freier Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt werden muss. Das Aufenthaltsrecht könne lediglich eingeschränkt werden, wenn jemand eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle. „Hat ein Jugendlicher mit 23 Jahren noch immer keine Beschäftigung, verliert er deshalb nicht sein Aufenthaltsrecht“, heißt es in dem Urteil. Ohne Aufenthaltsrecht könne er keine Beschäftigung aufnehmen und sich auch nicht besser integrieren. „Das Urteil zeigt, dass die Berliner Ausländerbehörde gegen europäisches Recht verstößt“, sagt Bilkay Öney, die migrationspolitische Sprecherin der Grünen im Abgeordnetenhaus. „Innensenator Körting ist aufgefordert, die umstrittenen Anwendungshinweise der Ausländerbehörde zurückzunehmen“. Die Richter hätten über einen Einzelfall in Hessen entschieden, das habe nichts mit Berlin zu tun, heißt es in der Innenverwaltung. Die Ausführungsvorschriften der Ausländerbehörde würden mit dem deutschen Aufenthaltsgesetz übereinstimmen. Die Berliner Ausländerrechtsexpertin Berenice Böhlo sieht das anders: „Die deutschen Gerichte müssen sich an das EuGH-Urteil halten, das ist sehr wohl bindend für Berlin.“ Innensenator Körting (SPD) sei bereit, die umstrittene neue Verordnung zu verändern, wolle aber den SPD-Parteitag am Wochenende abwarten, sagen Eingeweihte. Claudia Keller (Erschienen im gedruckten "Tagesspiegel" vom 09.10.2008) URL: http://www.tagesspiegel.de/berlin/;art270,2631642 Kommentar / Auf den Punkt gebracht Berlin macht sich lächerlich Claudia Keller über die Abschiebung ausländischer Schulabbrecher Wer nicht hören will, muss fühlen. Die Berliner Ausländerbehörde ist geübt darin, dieses Sprichwort anzuwenden. Wenn sich junge Ausländer nach wiederholter Aufforderung nicht anstrengen wollen, wird ihre Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert und mit Abschiebung gedroht. Doch eine Drohung bleibt wirkungslos, wenn das Druckmittel wegfällt. Genau das aber ist soeben passiert, zumindest was die Kinder türkischer Gastarbeiter angeht. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, dass es gegen europäisches Recht verstößt, die Aufenthaltserlaubnis junger Türken in Deutschland an Bedingungen zu knüpfen. Aufgrund des Assoziationsabkommens mit der Türkei, so argumentieren die Luxemburger Richter, haben junge Türken in der EU einen ähnlichen Status wie EU-Bürger. Und die können nur ausgewiesen werden, wenn sie eine Gefahr für die Sicherheit darstellen. Das Urteil des EuGH muss Innensenator Körting und der Ausländerbehörde zu denken geben. Der Versuch, jugendlichen Schulversagern durch die Ausländerbehörde Druck zu machen, ist nicht nur ein Irrweg, sondern ein Hohlweg. Wenn künftig türkischen Schulabbrechern mit der Abschiebung gedroht wird, können diese ihr Aufenthaltsrecht vor dem Europäischen Gerichtshof einklagen. Das wird sich auch in der türkischen Gemeinde herumsprechen, türkischen Zeitungen berichten seit Tagen über das Luxemburger Urteil. Berlin macht sich lächerlich, wenn es die leere Drohgebärde aufrechterhält. Ohnehin ist es fraglich, ob die Ausländerbehörde richten kann, was Eltern, Lehrer und Jobcenter nicht geschafft haben. Leistungsbereitschaft, Anstrengung, Ehrgeiz lässt sich nicht mit dem Aufenthaltsrecht erzwingen. Jugendliche, die hier aufwachsen, sind unsere Kinder, ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht. Ihre Probleme sind unsere Probleme. Die lassen sicht nicht einfach wegschieben. An dieser Erkenntnis führt kein Weg vorbei. Gut, dass die Europa-Richter dies klar gestellt haben. (Erschienen im gedruckten "Tagesspiegel" vom 09.10.2008) URL: http://www.tagesspiegel.de/meinung/kommentare/auf-den-punkt/;art15890,2631404
|