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60 Jahre Grundgesetz Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bundestag diskutiert und würdigt 60 Jahre Grundgesetz

Rede vor dem Deutschen Bundestag am 14. Mai 2009:

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ja, Herr Gysi, auch ich glaube daran, dass diese junge Generation in Einheit leben und die Teilung überwinden möchte. Ich glaube allerdings auch, dass Sie und die Linke etwas dafür tun und tun will, dass es möglichst nicht geschieht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Eine Unterstellung!)

Als es nach der friedlichen Revolution um einen gemeinsamen Verfassungsentwurf ging, hatten die Menschen vermutlich andere Fragen, Sorgen und Pläne, und das wird wohl auch heute so sein. Wolfgang Ullmann und andere dürfen hier trotzdem nicht unerwähnt bleiben im Hinblick auf ihr Bemühen, über eine gemeinsame Verfassung zu diskutieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es ging darum, das, was auf den Transparenten stand, in Verfassungswirklichkeit umzuwandeln. Da standen wütende Parolen wie "Stasi in die Produktion". Da stand aber auch "Keine Gewalt". Da wurde der Hoffnung mit den Worten "Gorbi, hilf uns!" Ausdruck verliehen. Außerdem stand da "Wir sind das Volk" und "Alle Macht geht vom Volk aus".

Mehr als alles andere war es dieser urdemokratische und friedlich vorgetragene Anspruch, der den SED-Staat am Ende zusammenbrechen ließ. Es lohnt sich heute, zu fragen, wie es um Freiheit und Demokratie bestellt ist. Es reicht nicht, stolz auf die Glanzpunkte von 60 Jahren zu zeigen. Demokratie ist nämlich kein Zustand; sie ist ein Prozess, in dem Mitsprache und Beteiligung immer wieder gelernt und vor allen Dingen möglich gemacht werden müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben Demokratie lernen müssen und wissen, wie gefährdet sie immer wieder ist.

Wir brauchen Streit. Streiten gehört zum Wesenskern in der Demokratie. Zum Glück werden Meinungen nicht verfügt wie in der DDR, sondern auf den Prüfstand gestellt. Sie müssen Gegenargumente aushalten. Unser demokratisches Zusammenleben braucht Streit. Was wir aber nicht brauchen, das ist eine Politik, die sich auf Wut, auf Ressentiments oder populistische Anbiederungen aufbaut, wenn auf Stimmungen gesurft wird.

Was soll denn die Debatte um den Unrechtsstaat DDR? Dabei geht es nicht um das, was trotzdem stattfand, ein Leben, das sich immer wieder normal anfühlte, nicht nur im Persönlichen übrigens. Ich hatte auch eine ganz begeisterte Lehrerin, die kein Bonze war. Da waren Erfinder, da waren Tüftler, da waren Fußballmannschaften und Musiker. Aber alles und jedes konnte sofort aufhören, wenn es nicht systemkonform war oder schien, wenn eine Person in Ungnade fiel oder wenn ein Schiedsrichter gegen die Mannschaft pfiff, die nach Meinung des Staatsapparates zu gewinnen hatte.

Nein, es ist Unrecht, wenn Grenzen dicht sind, wenn Justiz einer Parteidoktrin folgt und Zigtausende in Gefängnissen psychisch und physisch gequält werden, wenn eine Gesellschaft vom Kindergarten bis zum Alter ideologisch durchherrscht und militarisiert wird und wenn in ihr Altenheime heruntergekommene Masseneinrichtungen sind,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

in der es nur eine Meinung geben darf und Abweichung bestraft wird. Wie wollen eigentlich Herr Ramelow und andere Geschichtsklitterer das denen erklären, die im Jugendwerkhof saßen oder aus der Hochschule flogen,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

denen damit gedroht wurde, ihnen ihre Kinder wegzunehmen, wenn sie nicht mit der Stasi kooperierten, oder auch den Eltern von Mauertoten? Ich halte es für zynisch, wenn die DDR im Rückblick zu einer kleinen Idylle gemacht wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nicht umsonst standen zentrale Werte unserer Demokratie auch für den Aufbruch 1989 ‑ Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Selbstbestimmung ‑, und wohl jedes zweite Transparent in dem wunderbaren Herbst 1989 bezog sich auf diese friedlichen Werte, für die die Menschen einstanden, obwohl sie sich nicht sicher sein konnten, dass sie nicht dafür im Knast landen würden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die waren mutig!)

Grundrechte sind vor allem Freiheitsrechte. Es geht um Freiheit, sich zu entfalten, mitzureden, aktiv das eigene Leben zu gestalten. Genau über diese Freiheit müssen wir auch heute reden. Dabei geht es nicht nur darum, von Steuerlasten frei zu sein. Freiheit braucht Voraussetzungen, soziale, kulturelle, wirtschaftliche und auch ökologische Voraussetzungen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Dazu passt es auch nicht ‑ ich sage das bewusst auch als Bürgerin der Ex-DDR, in der jeder Lebensbereich durchleuchtet wurde ‑, dass wir Menschenwürde und Persönlichkeitsrechte heute zur Disposition gestellt sehen, zum Beispiel in der Wirtschaft. Es kann doch nicht sein, dass wir es als normal erachten, dass Verkäuferinnen quasi per se unter Verdacht gestellt und durchsucht oder von Sicherheitskräften betatscht werden, wenn sie den Laden verlassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es kann nicht sein, dass Unternehmen unter dem Deckmäntelchen der Prävention Krankenakten führen und dann Mitarbeiter unter Druck setzen. Wir sind ein freies Land. Dafür müssen wir kämpfen, auch in diesem Bereich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen: Mein Sohn hat gerade seine Abiturklausur über die Geschichte der Demokratie geschrieben. Er ist ganz hingerissen von dieser Frage, ebenso seine ganze Klasse, wenn sie davon erzählen, wie großartig sie es finden, eigentlich ein bisschen in der Vorstellung, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie selbst dabei gewesen wären. Das liegt nur ein ganz kleines bisschen an elterlicher Erziehung; das liegt vor allen Dingen an einer wunderbaren Geschichtslehrerin, die erklärt, begeistert, übt und kämpft. Es ist katastrophal, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der Geschichte der Demokratie wie mit der Diktatur in unseren Schulen immer wieder hinten herunterfällt. Das müssen wir ändern, denn dort ist die Wiege der Demokratie für die Zukunft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Diejenigen, die dafür 1989 auf die Straße gegangen sind, haben allen Grund, heute nicht damit zu hadern, dass die Demokratie nicht das Paradies ist. Sie ist aber das Beste, was uns passieren konnte.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

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