Positionspapier zur gesellschaftlichen Verharmlosung von Homosexuellenfeindlichkeit anlässlich aktueller Vorgänge in Marburg | | | | Sexuelle Orientierung, ob nun gegen- oder gleichgeschlechtlich, wird von uns nicht frei gewählt. Wir finden sie in uns vor, sie ist unmittelbar mit unserem Wesenskern verschmolzen und in ihrer Ausprägung individueller Bestandteil unserer Persönlichkeit. Sie stellt keinen zu verändernden Schaden, sondern ein unveräußerbares Gut des Menschen dar. Sexuelle Orientierung ist Bestandteil unserer Würde und unantastbar. Die Infragestellung der Homosexualität ist verletzend, sie ist anmaßend und monströs. Nichts legitimiert die Herabwürdigung von Homosexuellen und mit Recht würden sich umgekehrt auch Heterosexuelle die Diskreditierung ihrer Sexualität verbitten. Unsere Gesellschaft befindet sich seit langem in einem Prozess zunehmender Öffnung. Auch Homosexuelle haben von dieser Entwicklung profitiert. Ihnen steht heute die Möglichkeit zur Eintragung ihrer Lebenspartnerschaften offen, die strafrechtliche Spezialvorschrift für homosexuelle Männer ist abgeschafft, Homosexuelle sind in den Medien sichtbar und öffentliche Karrieren, etwa in der Politik, möglich geworden. Zu einer Normalisierung des Alltagsklimas hat dies jedoch längst nicht geführt. Eine homosexuellenfeindliche Grundströmung besteht fort und es gibt Anzeichen, dass diese sich derzeit wieder verstärkt. Nach wie vor wachsen Homosexuelle mit der Grunderfahrung des Unerwünschtseins ihrer Existenz auf. Sie erleben Verachtung, Beschimpfung, Hass und Häme und oftmals auch die Androhung oder Ausübung physischer Gewalttätigkeit. Nicht jeder steckt dies schadlos weg oder befindet sich in der privilegierten Lage, bestehende Freiräume zu nutzen, wenn Erwartungen an eine Standardbiografie auf ihm lasten und moralischer wie sozialer Druck nach sexueller Konformität ausgeübt wird. Verinnerlichte Schuld, Selbstverleugnung und das Führen eines Doppellebens sind ebenso Folgen solcher Ablehnung wie die überdurchschnittlich hohe Suizidversuchsrate bei homosexuellen Jugendlichen. Diese Situation ist unzumutbar. Sie ist einer Gesellschaft, die über das Potential der Aufklärung verfügt, unwürdig und darf nicht bagatellisiert oder untätig hingenommen werden. Wer Homosexualität öffentlichkeitswirksam für reparabel erklärt, ihr damit die Qualität eines Defekts zuschreibt und sie zur Disposition stellt, verortet sich im Spektrum einer homosexuellenfeindlichen Geisteshaltung und macht sich mitverantwortlich für das Homosexuellen zugefügte Leid. Wer dazu jahrelang publiziert und Homosexuelle therapeutisch zu ändern versucht, trägt zu einer pathologisierenden Wahrnehmung von Homosexualität bei. Hier handelt es sich nicht mehr um die Verbreitung wissenschaftlich widerlegten Unsinns oder um eine harmlose, anachronistische Spinnerei, sondern um eine Diffamierung, die die Grenze der Meinungsfreiheit tangiert. Wer sich an der Schaffung eben jener Sozialisations- und Lebensbedingungen beteiligt, die bis zur Ablehnung der eigenen sexuellen Wünsche und unveränderlicher Persönlich-keitsanteile führen und dann noch die Möglichkeit einer Veränderung in Aussicht stellt, macht die Wirkung zur Ursache und betreibt ein perfides Geschäftsprinzip. „Kritisch kann deutsche Sexualwissenschaft nur sein, wenn sie auf der Frage insistiert, welches Denken und Handeln die Verbrechen der Nazis vorbereitet hat.“ (Sigusch, Neosexualitäten 2005)
Wer die Überwindung und damit die Beseitigung von Homosexualität betreibt, ignoriert die historische Dimension seines Tuns und reiht sich in die Tradition der Verfolgung Homosexueller ein. Untrennbar verbunden mit der Geschichte der Homosexuellen-verfolgung sind Ermordung, Folter und Verstümmelung, sind Kriminalisierung und Internierung und schließlich im vergangenen Jahrhundert die Pathologisierung mit der Konsequenz vergeblicher Menschenversuche zur Umpolung Homosexueller - und dies mit dem Argument, es geschehe zu „deren besten“: Elektroschockbehandlungen zur Erzeugung von Aversionen gegen das eigene Geschlecht, Eingriffe an den Geschlechtsorganen oder im Gehirn und die Verabreichung von Hormonen seien als Beispiele genannt. Die eingangs benannte gesellschaftliche Öffnung gewährleistet keine Kontinuität und die Gewährung von Bürgerrechten schafft nur einen bedingten Schutz. Sie ist fragil und umkehrbar. Sie weiterzuentwickeln und dort zu verteidigen, wo sie angegriffen wird, ist Auftrag einer wehrhaften Demokratie und eine Aufgabe für jeden vernünftig Denkenden. Homosexuellenfeindlichkeit sollte weder im Alltag unwidersprochen bleiben noch als wissenschaftlich akzeptable Haltung aufgewertet werden. Es schmerzt, dass in Marburg hierüber offenbar keine Einigkeit besteht. Der die sexuelle Orientierung schützende Gehalt unserer Antidiskriminierungsgesetzgebung scheint nicht begriffen zu sein. Wir protestieren gegen die Bereitstellung eines öffentlichen Forums für homosexuellen-feindliche Kräfte in Marburg und fordern die Stadt Marburg, die Universität sowie die Veranstalter des Kongresses „Psychotherapie und Seelsorge“ auf, sich von den betreffenden Referenten erkennbar zu distanzieren. Marburg, im Mai 2009
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