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Wir sind den Orientalen genauso ein Rätsel wie sie uns.
Frankfurter Rundschau vom 17. November 2010:

Meinung - 17 | 11 | 2010  Kolumne

Scham und Sünde

Von Antonia Rados

Der durchschnittliche Iraker oder Afghane weiß alles über uns – dank Internet und Fernsehen. Das heißt aber nicht, dass er uns versteht. Im Gegenteil: Wir sind ihm ein Rätsel. Er kann noch so viel über uns hören und sehen, unser Verhalten bleibt ihm schleierhaft. Allein die Tatsache, dass wir nicht mit Onkeln, Tanten oder Nichten zusammen in einer Wohnung leben, erstaunt ihn. Wir umgeben uns mit wildfremden Leuten. Mit denen sind wir nicht im Entferntesten verwandt. Orientalen glauben, von solchen Menschen könne man nichts Gutes erwarten.

Noch weniger zu verstehen ist unser Umgang mit dem Thema Sex. Wir reden darüber. Öffentlich wird diskutiert, wer mit wem ins Bett geht, womit wir bei der Schriftstellerin Charlotte Roche angelangt wären. Sie bot in einem Interview an, mit Bundespräsident Christian Wulff zu schlafen. Auf diese Weise will sie die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke stoppen. Vielleicht ist das gut für die Anti- Atombewegung, aber es ist schlecht für die Völkerverständigung.

Im Orient versteht niemand die Frau. Da gelten schon nackte Oberarme oder Unterschenkel als schlimme Geschmacksverwirrung. Vom Rest des Körpers ganz zu schweigen. In einer Krisenregion lernte ich eine Deutsch-Libanesin kennen. Eine Woche lang hatte sie nicht duschen können. Daher bot ich ihr die Dusche in meinem Hotelzimmer an. Obwohl kein Mann in der Nähe war, ging die Frau verhüllt in das Badezimmer. Nachdem sie sich gewaschen hatte, kam sie versteckt hinter ihrem Schleier wieder heraus.

Obwohl man bei uns glaubt, das hänge mit dem Islam zusammen, ist es komplizierter. Anders als im Westen hat in der islamischen Welt die sexuelle Revolution nie stattgefunden. Befreite Frauen, tätowierte Körper, Seminare über lustbetontes Genießen? Gibt es alles nicht.

Im Iran konnte man vor einiger Zeit eine DVD kaufen mit Aufnahmen einer berühmten Schauspielerin beim Geschlechtsverkehr. Die DVD wurde auf dem Schwarzmarkt angeboten. Sie war ein Hit. Als ich darüber eine Reportage drehen wollte, war der Übersetzer im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Er wollte nicht einmal das Wort „Sexszenen“ aussprechen.

Da die Menschen im Orient auch in der Sprache schamhafter sind als wir, wird über Frauen wie Charlotte Roche nur blumig dahergeredet. Das klingt dann so: Hat der oder die etwa …? Antworte ich im Klartext, merke ich, wie mein Gegenüber rot wird im Gesicht. Wer wird das noch bei uns?

Die Schamhaftigkeit treibt manchmal Blüten. Junge moslemische Frauen tragen hautenge Leggings und binden sich zugleich ein Kopftuch um. Radikale, sagen wir. Hochmodern, meinen die Gören. In einigen Ländern geht das so weit, dass man westliche Fernseh-Shows nachmacht, aber eben nicht ganz. In Afghanistan gibt es eine ähnliche Sendung wie Deutschland sucht den Superstar. Da machen zwar auch Laiensängerinnen mit, nur treten die verhüllter auf als jede Frau auf Kabuler Straßen.

In Orient versteht man nicht, wie Frau Roche unzüchtige Angebote machen kann, ohne dass ihr Bruder ein Machtwort spricht. Da er das nicht tut, muss die arme Frau keine Familie mehr haben, die auf sie aufpasst.

Wir sind den Orientalen genauso ein Rätsel wie sie uns.

Antonia Rados ist Fernsehjournalistin.

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