Nur in Statistik mehr Jugendgewalt
08. Jan 17:37
| Der Anstieg der Jugendkriminalität soll ein statistischer Effekt sein | Foto: dpa |
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Experten widersprechen der landläufigen Meinung, dass die Jugendgewalt gestiegen sei. Gerade die Ausländerkriminalität ist zurückgegangen, teilt das Bundesinnenministerium mit. Prügel, Schläge, Überfälle: An bedrückenden Beispielen erschreckender Jugendgewalt in Deutschland mangelt es nicht. Die Zahl der tatverdächtigen Gewaltkriminellen unter 21 hat sich laut Statistik in den vergangenen 13 Jahren mehr als verdoppelt. Insgesamt fällt nach Angaben des Bundeskriminalamts fast jeder zweite Gewaltkriminelle in diese Altersgruppe. Doch die Zahlen sind umstritten: «Es gibt Studien, die zeigen, dass die Jugendkriminalität sogar zurückgegangen ist», sagt der Hildesheimer Kriminologe Werner Greve. Laut polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) wurden 2006 im Zusammenhang mit Gewaltkriminalität fast 90.000 Tatverdächtige unter 21 registriert. Im Jahr 1993 waren es nur rund 44.000. Doch der Anschein trügt, wie Greve erläutert: «Die Polizei schreibt nur das auf, was sie auch weiß - die PKS ist deshalb bestenfalls eine Anzeigestatistik.» In den vergangenen zehn Jahren habe sich die Registrierung von Straftaten deutlich verbessert. «Damit hat sich die Jugendkriminalität von einem großen Dunkelfeld ins Hellfeld bewegt, selbst wenn sie insgesamt gleich geblieben ist.» Auch der Kriminalwissenschaftler Thomas Feltes von der Universität Bochum sieht die Zahlen kritisch: Jugendliche Gewalttäter würden heute viel eher von ihren Opfern angezeigt, als es früher der Fall gewesen sei, betont er. Bei Verbrechen wie Mord, Totschlag und Vergewaltigung zeige die Polizeistatistik ohnehin einen Rückgang. Auch Gewalttaten im öffentlichen Raum wie Raub und Körperverletzung hätten nach Berücksichtigung aller Faktoren nur moderat zugenommen. Greve zufolge ist der statistische Anstieg der Jugendkriminalität auch eine Folge von Gesetzesänderungen: Gewalt an Schulen etwa werde heute viel strikter gemeldet. «Die polizeiliche Kriminalstatistik ist eher eine offizielle Wahrnehmungsstatistik. Wie die Realität aussieht, ist eine ganz andere Frage», sagt der Experte. Durch die aktuelle Diskussion über jugendliche Gewalttäter werde die Bevölkerung weiter sensibilisiert und die tatsächliche Entwicklung des Problems stark überschätzt.
Ausländer nicht gewaltbereiter als Deutsche
Auch die Entwicklung der Kriminalität unter ausländischen Jugendlichen ist weniger eindeutig als oft behauptet. Zwar ist der Anteil verdächtiger Gewalttäter ohne deutschen Pass laut Statistik überdurchschnittlich hoch. Er ist jedoch sowohl bei allen Straftaten als auch speziell bei Gewaltkriminalität rückläufig, wie das Bundesinnenministerium mitteilt. «Die Ausländerkriminalität ist in den vergangenen Jahren massiv zurückgegangen», sagt Feltes. Studien zufolge seien ausländische Jugendliche weder krimineller noch gewalttätiger als deutsche, wenn statistische Verzerrungen und Dunkelziffern mit einbezogen würden. Beispiel junge Türken: Nach Berechnungen des Kriminologischen Instituts Niedersachsen ist der Anteil gewalttätiger Realschüler türkischer Herkunft kaum höher als unter deutschen Schülern. Hinzu kommt laut Greve, dass die Statistik ganz anders interpretiert werden kann, sobald weitere Faktoren beachtet werden: Wird neben der Herkunft auch der soziale Status der Verdächtigen ausgewertet, zeige sich, dass der Migrationshintergrund gar nicht der springende Punkt sei. Alle Menschen aus sozial schwachem Umfeld würden eher kriminell - egal ob Deutsche oder Ausländer.
«Nicht die Hautfarbe oder Ethnie entscheidet, sondern die Chancen, die jemand in der Gesellschaft hat», sagt auch Feltes. «Aus statistischer Sicht ist die aktuelle Debatte deshalb absolut überflüssig.» Greve fordert, sich bei der Gewaltprävention nicht auf Ausländer, sondern auf alle sozial schwachen Familien zu konzentrieren. «Am besten auf junge Frauen aus prekären Verhältnissen», erklärt er. «Sie erziehen die Problemkinder. Wir müssen eine halbe Generation früher ansetzen.» (AP)