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Stadt der Verzweiflung |
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06.11.2007 · 09:10 Uhr Marktszene in Diyarbakir (Bild: AP Archiv) Stadt der Verzweiflung Gewalt, Armut und Arbeitslosigkeit in der Kurdenstadt Dyarbakir Die Gefahr eines türkischen Einmarsches im Irak ist nicht gebannt. Damit bleibt die Atmosphäre in den Kurdengebieten auf türkischer Seite angespannt und deprimierend - wie schon seit Jahren. Denn seit der Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der EU im Herbst 2005 ist kaum eine Woche ohne neue Auseinandersetzungen rund um die Kurdenmetropole Dyarbakir vergangen. Susanne Güsten hat dort Menschen getroffen, für die Gewalt, Armut und Arbeitslosigkeit zum Alltag geworden sind.
Ein Teehaus in Diyarbakir, im Stadtviertel Aziziye, am helllichten Vormittag eines Werktages. Fast alle Hocker sind besetzt, der Rauch hängt über den Tischen, an denen heute schon die x-te Runde Karten oder Tavla gespielt wird. Ein gutes Geschäft macht der Wirt Kasim Tokay trotzdem nicht: Selbst die paar Kurusch für ein Glas Tee haben viele seiner Gäste nicht mehr übrig. Tokay schenkt den Tee deshalb auf Pump aus - und das schon seit Jahren. Als Ortsvorsteher von Aziziye weiß er nur zu gut, dass hier nichts zu holen ist:
Zehntausend Menschen leben in diesem Viertel, und 99 Prozent davon sind arbeitslos. Wenn sie Arbeit hätten, säßen sie nicht alle den ganzen Tag im Teehaus. Ich habe selbst drei Söhne, die haben alle Abitur gemacht, aber glauben sie, einer von denen hätte Arbeit? Ich bin seit 15 Jahren Ortsvorsteher hier, aber ich kann keinem einzigen Sohn einen Job verschaffen.
Und das liegt daran, dass es einfach keine Arbeit gibt - in Aziziye nicht, in Diyarbakir nicht und im gesamten Kurdengebiet der Türkei nicht.
In den Gassen und Hütten von Aziziye ist das Ergebnis unübersehbar: Während die Männer im Teehaus hocken, sitzen die Frauen und Kinder trotz kühler Temperaturen draußen in den engen Gassen. In den windschiefen und selbstgemauerten Behausungen ist einfach kein Platz für alle, ganze Großfamilien müssen sich nachts in ein oder zwei kahle Räume mit Zementfußboden zwängen. Von Küchen oder gar Badezimmern kann keine Rede sein, ein Plumpsklo und ein Wasserhahn im Freien müssen genügen. Die Hausfrau und Muttter Sultan weiß gar nicht, wo sie beginnen soll, wenn sie ihre Sorgen aufzählt:
Uns geht es allen so schlecht, hier ist ist einer elender als der andere. Wir haben nicht nur einen Wunsch, wir haben so viele Nöte und Bedürfnisse.
Arbeitslosengeld, Sozialhilfe oder ähnliche Unterstützung gibt es für die Bewohner der Armenviertel von Diyarbakir nicht, sagt Ortsvorsteher Tokay:
Vom Staat bekommen sie für den Winter einen Sack Kohle, wenn sie über 45 Jahre alle sind, und sonst nichts. Die Leute hier brauchen aber keine milden Gaben, sie brauchen Fabriken und Arbeitsplätze, um sich ihr Brot verdienen zu können. Wir verrecken hier sonst wegen der Armut.
Rund 70 Prozent der Einwohner von Diyarbakir sind Kriegsflüchtlinge - Menschen, die in den 80er und 90er Jahren aus den umliegenden Bezirken in die Stadt fliehen mussten, als ihre Dörfer im Kampf zwischen der PKK und der türkischen Armee niedergebrannt wurden. Ihre Felder, Weiden und Viehherden gibt es nicht mehr, die früheren Bauern und Hirten sind heute auf Arbeitsplätze angewiesen. Im gesamten Osten und Südosten der Türkei, vom Euphrat bis zum Ararat, findet sich aber kaum ein Dutzend größere Fabriken. Offiziell liegt die Arbeitslosigkeit in Diyarbakir bei 14 Prozent, inoffiziell wird sie selbst von der Stadtverwaltung auf 60 bis 70 Prozent geschätzt. Dies ist das eigentliche Problem der türkischen Kurden, sagt der kurdische Geschäftsmann Alatin Cinar, selbst ein Kriegsflüchtling aus dem Bezirk Kulp:
Diese Region hat weniger ein Kurdenproblem als vielmehr ein Wirtschaftsproblem. Wenn diese Region so viel wirtschaftliche Zuwendung bekäme wie die anderen Teile der Türkei, dann hätten wir kein Problem mehr. Die Gegend ist zurückgeblieben, sie hat keine Schulen und Universitäten, keine Kultur - sie braucht staatliche Hilfe, die nicht kommt.
Im Stich gelassen, vernachlässigt und benachteiligt fühlen sich die türkischen Kurden von ihrer Regierung in Ankara. Da brauche sich der Staat nicht zu wundern, wenn die arbeitslose kurdische Jugend zu den Rebellen gehe, meint Ortsvorsteher Tokay:
Wenn wir nur Arbeitsplätze hätten, dann würden die Leute morgens zur Arbeit gehen und abends nach Hause und sie wären ruhig und zufrieden. Aber ohne Arbeit und Einkommen werden die einen eben zu Dieben, die anderen gehen zu den Rebellen in die Berge. Wenn der Staat hier hundert Fabriken hinstellen würde, dann ginge keiner mehr in der Berge, es gäbe keinen Konflikt mehr und keine Gewalt.
Doch danach sieht es momentan weniger denn je aus. Ganz gleich ob Ankara Truppen über die Grenze nach Irak schickt oder nicht - auf der türkischen Seite der Grenze wird schon längst wieder gekämpft zwischen der PKK und der Armee. Und damit schwindet auch wieder der Funken Hoffnung, der vor ein paar Jahren aufgekommen war, sagt Geschäftsmann Cinar:
Zwischen 2003 und 2005, als unsere Regierung eine aufgeklärtere Politik betrieb und alle Hoffnung hatten, da sind auch die Geschäftsleute hierher gekommen, haben zwar noch nicht groß investiert, aber sie haben sich uns doch erstmals zugewandt. Das hat uns sehr ermutigt. Aber nachdem jetzt wieder alles den Bach runtergeht, ziehen die sich wieder zurück. Wegen der Unsicherheit wird hier auf absehbare Zeit keiner was investieren.
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