Im Brief lag eine Patrone. Falls Hatem Dschuma seinen Handyladen nicht räume, schrieben die Erpresser, würde man ihn und seine Frau töten. Wenige Tage später wurden Schüsse abgefeuert, die den Ladenbesitzer knapp verfehlten. Da wusste der chaldäische Christ, dass er aus Bagdad flüchten musste. „Wir waren jede Sekunde bedroht“, erinnert sich der 32-Jährige, der seit einem halben Jahr in Berlin lebt.
In der Bagdader Geschäftsstraße, wo sich sein Laden und viele andere Geschäfte von Christen befanden, haben sich inzwischen Terroristen eingenistet, die dort Autobomben bauen. Die Flucht nach Deutschland war eine Odyssee. Der Elektroingenieur musste seine gesamten Ersparnisse, 30.000 Dollar, dem Fluchthelfer aushändigen. „Wir wurden in den Norden des Irak gebracht und erreichten nach dreitägigem Fußmarsch die Türkei“, berichtet Hatem Dschuma. Nach einigen Zwischenaufenthalten kam das Ehepaar illegal nach Deutschland und beantragte Asyl. Nun warten die beiden Tag um Tag auf die Entscheidung der deutschen Behörden. „Wir wollen bald wieder arbeiten, wir sind es nicht gewohnt, anderen auf der Tasche zu liegen.“
Doch als Asylbewerber dürfen Hatem Dschuma und seine Frau Samar keiner Beschäftigung nachgehen, die Zeit wird lang, und die Anspannung wächst. Dabei hatten die Dschumas noch Glück im Unglück. Die meisten irakischen Christen verlieren mit ihren Wohnungen und Häusern auch ihr gesamtes Vermögen und können so nicht einmal das Geld für die Flucht aufbringen.
Die Not der Christen im Irak ist erst durch einen Vorstoß von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit gerückt. Angeregt durch alarmierende Berichte nach der Ermordung des Mossuler Bischofs Paulos Faraj Rahho, informierte Schäuble im April zuerst die Innenminister der Länder und dann seine europäischen Kollegen, dass Deutschland sich dafür einsetze, ein größeres Kontingent von geflüchteten Christen in Europa aufzunehmen.
Die EU-Amtskollegen waren anfangs wenig begeistert von der deutschen Initiative. Man dürfe die Entscheidung nicht von Religion oder Rasse abhängig machen, hieß es. Dagegen signalisierten einzelne Länder wie Frankreich, Schweden und Finnland Zustimmung. Ein EU-Beschluss, so wurde bei einem Treffen der EU-Innenminister in Luxemburg Anfang Juni vereinbart, könne aber erst im Herbst getroffen werden.
Bischof Huber spricht von "Völkermord"
Doch die Lage ist unvermindert dramatisch. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR flüchten jeden Monat rund 50.000 Iraker aus dem von Terror und Bürgerkrieg geplagten Land. Insgesamt befinden sich 4,5 Millionen Iraker auf der Flucht. Die meisten suchen in Jordanien, Syrien, im Libanon und in Ägypten Zuflucht. Besonders betroffen von den Aggressionen der Extremisten im Irak sind religiöse Minderheiten, zu denen neben armenischen, chaldäischen und syrischen Christen auch die Glaubensgemeinschaften der Jesiden, Mandäer und Bahais zählen.
Die Nichtmuslime machen mehr als zehn Prozent der Flüchtlinge aus und haben das schlimmste Los zu tragen. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, spricht sogar von „Völkermord“ und „ethnischen Säuberungen“. Die Liste der Gräueltaten ist lang: Schutzgelder werden erpresst, Läden geplündert, gebrandschatzt und enteignet, Kirchen in die Luft gesprengt, Mädchen und Frauen entführt, vergewaltigt und zwangsislamisiert, Priester enthauptet oder gekreuzigt.
Von einer besonders grausamen Tat berichtet der Nahost-Experte Thomas Krapf: „Im Oktober 2006 wurde in Bagdad ein zwei Monate alter Säugling entführt. Seine Mutter konnte das Lösegeld nicht aufbringen. Enthauptet, geröstet und auf Reis gebettet, wurde ihr die Leiche zugestellt.“
Nach einer Freitagspredigt begann die Hatz
Dass die Diskriminierung der Christen im Irak schon unter Saddam Hussein, wenngleich mit weniger grässlichen Auswüchsen, gängige Praxis war, wissen länger in Deutschland lebende Iraker zu berichten. Als der heute 60-jährige Batrus Mikha Stefo mit seiner Familie vom Christendorf Alkosch in die überwiegend von Muslimen bewohnte Großstadt Mossul zog, schlug ihm offener Hass entgegen. Man erklärte die Christen schon vor dem US-Einmarsch zu Kollaborateuren: „Nach einer Freitagspredigt“, so Batrus Mikha, „wurde ein Christ erstochen, dann begann die Hetze gegen Christen in der Stadt. ‚Kauft nicht bei Christen!‘, hieß es schon bald.“
Der heute 27-jährige Sohn Ragheed Batrus Mikha erinnert sich: „Wir mussten auf Kreuze springen, die muslimische Kinder mit Kreide auf den Boden gemalt hatten. Wir wurden wegen unseres Glaubens gehänselt und ausgegrenzt.“ Schon Anfang der 90er-Jahre habe es Christenpogrome gegeben, christliche Geschäfte mussten schließen, christliche Beamte durften ihren Beruf nicht mehr ausüben. „Wir Christen sind die klassische Opfergruppe, wir können uns nicht schützen, weil wir im ganzen Land verstreut leben.“ 1998 reiste die Familie nach Deutschland aus, nach eineinhalb Jahren wurde ihr Asylersuchen anerkannt. Vater Batrus Mikha hat seine irakische Staatsbürgerschaft behalten, die Kinder sind längst Deutsche.
Sie beten in der Sprache Jesu
Rund 75.000 Iraker leben in Deutschland, viele kamen nach dem Giftgasangriff Saddams 1992 und nach der Kuwait-Invasion 1993. Mehr als 10.000 davon sind Christen. Isa Totzman, Pressesprecher der syrisch-orthodoxen Gemeinde in Berlin, begrüßt Schäubles Initiative, hat aber die Sorge, die Christen im Irak könnten das Schicksal ihrer Glaubensbrüder in der Türkei erleiden und „bis auf winzige Reste verschwinden“. Immerhin handle es sich um urchristliche Gemeinden mit einer fast 2000-jährigen Geschichte. Viele der irakischen Christen beten heute noch auf Aramäisch, in der Sprache Jesu. „Die europäischen Mühlen mahlen langsam, und bis zu einer Entscheidung sind alle Christen vertrieben“, befürchtet Totzman.
Auch der Münchner Pfarrer Peter Patto, selbst ein aus dem Irak geflüchteter chaldäisch-katholischer Christ, wundert sich über das Zögern der Europäer: „Viele irakische Christen sind geschockt, wenn sie nach Deutschland kommen. Die Behörden sagen, es interessiere sie nicht, welcher Religion sie angehören. Aber wir brauchen die Anerkennung als besonders grausam verfolgte religiöse Minderheit. Rückkehr wäre Selbstmord.“
Europäische Einigung über Aufnahme der Flüchtlinge steht bevor
Die Religionszugehörigkeit gehört nicht zu den Prioritäten des UN-Flüchtlingshilfswerks, das von „besonders gefährdeten Personen“ spricht. Auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz sieht nicht in der Religion, sondern in der Rückkehrwahrscheinlichkeit das entscheidende Kriterium für die Aufnahme. Die sei bei Schiiten und Sunniten eingeschränkt gegeben, bei Christen aber überhaupt nicht, sagt Vaatz, der im Mai mit einer Gruppe von Unionspolitikern und Kirchenleuten nach Syrien und Jordanien reiste, um sich ein Bild von der Lage der aus dem Irak geflüchteten nicht muslimischen Minderheiten zu machen.
Das UNHCR habe angeboten, rund 10.000 Flüchtlinge auszuwählen, die wegen Prostitution und Kinderarbeit mit den syrischen Gesetzen in Konflikt geraten seien und dort nicht mehr geduldet würden. Zu diesem Kontingent würden dann auch einige Hundert Christen gehören. Den aufnehmenden Ländern sei so eine eigene Auswahl kaum möglich.
Das exakte Kontingent muss letztlich das Bundesamt für Asylbewerber in Zusammenarbeit mit den Botschaftern in Syrien und Jordanien festlegen – nach einer Einigung mit den anderen europäischen Aufnahmeländern. Diese europäische Einigung sei nun überraschend nähergerückt und werde voraussichtlich noch im Juli verwirklicht werden, sagt Stefan Paris, Sprecher des Bundesinnenministers.
Das Meinungsbild in der EU-Kommission habe sich unter dem Eindruck der irakischen Entwicklung und aufgrund der hartnäckigen deutschen Hintergrunddiplomatie gedreht. Nun setze man auf den Willen von Präsident Nicolas Sarkozy, gleich zu Beginn seiner EU-Präsidentschaft ein Zeichen zu setzen. Die Franzosen würden das Thema in den EU-Rat holen, es gäbe erste informelle Gespräche. Die offizielle Ratssitzung finde am 24./25. Juli in Brüssel statt. Stefan Paris: „Diese Eile ist eher untypisch für europäische Entscheidungsfindungen. Man weiß jetzt, wie dramatisch die Lage für die Flüchtlinge ist.“